Stürme
Orkan Lothar Dezember 1999
Am 26. Dezember 1999 wurden weite Teile der Schweiz von einem der stärksten, je registrierten Stürme heimgesucht. In den letzten Tages des Jahres 1999 liefen die Vorbereitungen auf den gefürchteten Millenium-Wechsel auf Hochtouren. Monatelang waren zuvor Katastrophenszenarien im Zusammenhang mit dem historischen Datumswechsel heraufbeschworen worden. Doch es war keine technische Katastrophe, die uns am Jahresende heimsuchte. Nach einem aussergewöhnlich unwetterträchtigen Jahr, übertraf Lothar mit seiner unheimlichen Wucht sämtliche Vorstellungen und Erfahrungen mit Naturereignissen. Noch nie hatte in der Schweiz ein Naturereignis Schäden im Umfang von fast 1.8 Milliarden Franken verursacht. Am stärksten betroffen waren der Wald und die Gebäude. 14 Menschen fielen dem Sturm zum Opfer, mindestens 15 starben bei den nachträglichen Räumungsarbeiten.

Die synoptische Entwicklung des Orkantiefs Lothar
Um die Entwicklung eines solch gewaltigen Sturmes wie Lothar zu verstehen, muss man die Grosswetterlage und die Vorgeschichte über dem Nordatlantik und Europa betrachten. Ab dem 20. Dezember 1999 wurden die Strömungsverhältnisse durch ein umfangreiches Tiefdruckgebiet bestimmt, das seinen Schwerpunkt bei Island hatte. Dieses Tief wurde an den folgenden Tagen anhaltend mit polarer Kaltluft aus der Arktis und mit Warmluft vom subtropischen Atlantik gespeist.
Am 24. Dezember 1999 wurde der bis anhin vorhandene Hochdruckkeil über Mittel- und Osteuropa vollständig abgebaut. Somit konnte sich die gestreckte, zonale Höhenströmung über den ganzen Nordatlantik hinweg bis nach Mitteleuropa ausdehnen. Ein in dieser Strömung eingelagertes Randtief verlagerte sich von Irland her unter starker Vertiefung zur Nordsee und drehte schliesslich zu den Färöer Inseln ein, wo es die Position und Funktion des steuernden Zentraltiefs übernahm. Dieser Tiefdruckwirbel erhielt dann den Namen „Kurt“. Die Kaltfront von „Kurt“ überquerte am 25. Dezember 1999 die Schweiz, begleitet von Sturmwinden. An der zum Zentraltief „Kurt“ gehörende Frontalzone, die sich mittlerweile über den ganzen Atlantik erstreckte, entwickelte sich am späten 24. Dezember 1999 südlich von Neufundland in der unteren Troposphäre eine frontale Welle, deren Luftdruck anfänglich 1005 hPa betrug. Unter stetiger Verstärkung verlagerte sich die frontale Welle innerhalb eines optimalen Umfeldes mit anhaltender Zufuhr von Polarluft sowie von feucht-warmer subtropischer Luft ostwärts. Am 25. Dezember 1999 hatte die bereits zu einer Sekundärzyklone weiterentwickelte Welle einen Kerndruck von 995 hPa. Bis zu diesem Zeitpunkt deutete noch nichts auf eine so extreme Entwicklung hin, wie sie dann am Folgetag eintrat. Am 26. Dezember 1999 00 UTC befand sich das Sekundärtief, aus dem später das Orkantief Lothar entstand, etwa 300 km südlich von Irland und wies einen Kerndruck von 985 hPa auf. In den nachfolgenden sechs Stunden fand eine Entwicklung statt, die in Europa mindestens in den letzten 30 Jahren noch nie beobachtet worden war. Der Luftdruck im Zentrum des Sekundärtiefs, das sich über Rouen (F) nördlich von Paris befand, fiel um 25 hPa auf 960 hPa. In Rouen selbst wurde ein Druckfall von 26 hPa innerhalb drei Stunden gemessen! Mit der extremen Vertiefung nahmen auch die Windgeschwindigkeiten zu und erreichten über Frankreich bereits Orkanstärke.
Diese aussergewöhnliche Entwicklung wurde ermöglicht durch:
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Eine sehr stark ausgebildete, zonal ausgerichtete Frontalzone mit grossen Temperaturgegensätzen, was wiederum zu einer sehr starken Höhenströmung (Jetstream) führte
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Die optimale vertikale Anordnung und damit die Interaktion zwischen dem Jetstream und dem Bodentief; sowie
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Die anhaltende Zufuhr von subtropischer Luft, die reich an Wasserdampf war und über die freigesetzte latente Wärme einen wesentlichen Beitrag zur starken Vertiefung lieferte.
Nach 06 UTC am 26. Dezember 1999 zog das Orkantief Lothar rasch weiter ostwärts über Mitteleuropa hinweg. Dabei traten die stärksten und verheerendsten Winde im südlichen Sektor des Tiefs auf. Die Orkanwinde und die Kaltfront erreichten am späten Vormittag die Schweiz und überzogen bis kurz nach Mittag die ganze Alpennordseite. Lothar füllte sich zu dieser Zeit schon allmählich auf und hatte über Mitteldeutschland noch einen Kerndruck von 975 hPa. Von Deutschland verlagerte sich Lothar nach Polen, wo er sich weiter auffüllte. Dabei nahmen die Windgeschwindigkeiten und die Zerstörungskraft deutlich ab. Die sehr starke westliche Höhenströmung blieb aber bestehen, so dass sich noch ein weiteres Randtief zum Orkan entwickeln konnte. Dieses Orkantief namens Martin zog vom 27. auf den 28. Dezember 1999 auf einer etwas südlicheren Zugbahn ostwärts und verursachte hauptsächlich in Südwestfrankreich grosse Schäden, wobei auch die Westschweiz noch randlich davon betroffen wurde.
Lothar über der Schweiz
Die Kaltfront des Orkans erfasste die Schweiz um etwa 09.00 UTC im Bereich des Neuenburger Jura. Ungewöhnlich keilförmig ausgeprägt überquerte sie in der folgenden halben Stunde die Jurahöhen. In La Brévine erreichte die Windspitze 157 km/h, in Delémont gar 170 km/h. Selbst auf dem 1600 Meter liegenden Chasseral wurden mit 177 km/h nur unwesentlich höhere Windspitzen gemessen.
Schneller Vorstoss ins Mittelland
Nach der Überwindung des Jura wälzte sich die Kaltfront mit enormer Geschwindigkeit hinab ins westliche Mittelland und stiess immer noch keilförmig gegen Osten zur Zentralschweiz vor. Die Keilspitze bewegte sich offenbar phasenweise mit einer Geschwindigkeit von rund 150 km/h. Denn zwischen 10.00 und 10.10 UTC, knapp 20 Minuten nach der Juraüberquerung, erreichte der östliche Teil der Kaltfront bereits die Innerschweiz. Zur gleichen Zeit liess der südliche Abschnitt der Kaltfront Bern hinter sich und begann nur wenig später in die Alpen vorzudringen.
Gleichzeitig heftiger Föhn über den Alpen
Kurz nach 10.00 UTC verlangsamte sich die Vorwärtsbewegung der Kaltfront auf der Ostseite. In der Zentralschweiz stiess Lothar auf den Föhn. Verursacht durch das nördlich der Schweiz vorbeiziehende Tiefdruckzentrum, baute sich über dem Alpenraum ein grosses Süd-Nord Druckgefälle auf. Dies löste vor der herannahenden Front vorübergehend eine heftige Föhnströmung aus. Während sich die Kaltfront in der Zentralschweiz verlangsamte, wälzten sich die Luftmassen entlang des Thuner- und Brienzersees mit grosser Wucht ins Berner Oberland hinein. Dabei stieg in Brienz die Windspitze auf den ausserordentlich hohen Wert von 181 km/h. Bis gegen 10.30 UTC konnte sich schliesslich eine breite Kaltfront entlang des westlichen Alpennordhangs und über das zentrale Mittelland formieren.
Das Berner Oberland war die einzige Region, in welcher die Kaltfront grossflächig etwas tiefer ins Alpeninnere vorzustossen vermochte. Allerdings kann der Verlauf der Kaltfront hier nur lückenhaft rekonstruiert werden, da lediglich die Messstationen Boltigen (Simmental) und Adelboden zur Verfügung stehen. Boltigen wurde von der Kaltfront mit Windspitzen von über 150 km/h um etwa 10.30 UTC erreicht. In Adelboden hingegen traten die maximalen Windspitzen von 120 km/h bereits vor 10.00 UTC auf, und zwar aus Richtung Südsüdwest. Es scheint demnach, dass in gewissen Tälern des Berner Oberlands nicht die vorrückende Kaltfront, sondern der durch das Sturmtief ausgelöste Föhn die höchsten Windspitzen entwickelte.
Schneller Abzug über die Ostschweiz
Durch die schnelle Ostwärtsverlagerung des Tiefdruckzentrums über Deutschland erhielt die Kaltfront eine west-östliche Ausrichtung. Während sie sich in der Zentralschweiz nur langsam Richtung Osten bewegte, stiess sie in knapp einer Stunde vom Rhein Richtung Süden bis zum Alpennordrand vor. Durch diese sogenannte schleifende Südwärtsbewegung der Kaltfront wurde die Ostschweiz in kurzer Zeit grossflächig vom Orkan erfasst, und die kalten Luftmassen wurden als Folge des Druckanstiegs im Mittelland mit hoher Geschwindigkeit ab ca. 12.00 UTC ins Reuss- und ins Rheintal gedrängt.
Wie häufig ist ein Sturm von der Stärke Lothars zu erwarten?
Ein Sturm der Stärke Lothars ist im Flachland der Alpennordseite je nach Messstandort im Durchschnitt etwa alle 20 bis alle 100 Jahre zu erwarten. An einigen Messstandorten ergeben sich allerdings auch Wiederkehrperioden von deutlich über 100 Jahren. Bei der Diskussion solcher Wiederkehrperioden ist ganz wesentlich zu bedenken, dass die statistische Bestimmung der Wiederkehrperioden extremer Windgeschwindigkeiten mit grossen Unsicherheiten verbunden ist. In Basel lag die Windspitze während Lothar bei 147 km/h. Diese Windspitze tritt in Basel gemäss statistischer Analyse im Durchschnitt etwa alle 20 Jahre auf. Dies entspricht aber nur der besten Schätzung. Auf Grund der Unsicherheit dieser Schätzung muss davon ausgegangen werden, dass die Wiederkehrperiode zwischen 6 und 80 Jahren liegt.
Grosse Schäden
Der Sturm, vermutlich ein sogenannter «Down-Burst», forderte ein Menschenleben und 40 Verletzte. Zahlreihe Gebäude wurde beschädigt, einige auch massiv. Bäume brachen oder wurden entwurzelt. An vielen Fahrzeuge gab es Schäden durch umstürzende Bäume oder herunterfallende Gebäudeteile. Der Sturm warf einen Baukran um und knickte den Masten einer Hochspannungsleitung. Schwer getroffen wurde auch die Bahn-Infrastruktur. Der Zugsverkehr war unterbrochen.
Beurteilung der extremen Böenspitze
Mit den 217 km/h wurde der vom Hersteller des Messinstruments angegebene Anwendungsbereich knapp überschritten. Das Gesamtbild aus Wetterlage, Ereignisablauf, Aufstellung und Unterhalt der Messstation, operationeller Datenqualitätsprüfung sowie die Vergleiche mit den nahe gelegenen Messungen auf dem Flugplatz und das Schadensbild vor Ort lassen den Messwert jedoch plausibel erscheinen. Auf Grund der technischen Auslegung des Messinstruments ist der Messwert aber mit einer Unsicherheit verbunden. Diese Unsicherheit dürfte mindestens im Bereich von 10% liegen. Es ist die von der Weltmeteorologie Organisation (WMO) für Böenspitzen angegegebene «achievable measurement uncertainty».
Nicht das erste Mal so heftig
Am Nachmittag des 12. Juni 1926 zog unweit der Stadt La Chaux-de-Fonds ein extrem heftiger Gewittersturm vorbei. Sein Pfad zeigte eine charakteristische fast schnurgerade SW-NE Ausrichtung, was auf einen Tornado schliessen lässt. Der Tornado legte eine Strecke von 22 Kilometern zurück. Ein achtjähriger Junge, zusammen mit seiner Mutter unterwegs, wurde vom Sturm derart heftig durch die Luft geschleudert, dass er an den dabei erlittenen Verletzungen erlag. Seine Mutter und mehrere weitere Personen wurden schwer verletzt. Der Sturm hinterliess zerstörte Wohnhäuser und kahlgeschlagene Waldpartien. Der Jura wurde schon mehrmals von massiven Tornados heimgesucht. Das wohl am besten dokumentierte Ereignis war jenes vom 26. August 1971 über der Vallée de Joux. Der Tornado hinterliess eine schnurgerade und praktisch durchgehende Waldschneise von etwa 20 Kilometern. Die Luftbilder der Schäden zeigen eindrücklich die in wirbelförmiger Anordnung am Boden liegenden Baumstämme. Der Tornado zog insgesamt 79 Gebäude in Mitleidenschaft, 18 davon schwer. Einzelne Gebäude wurden vollständig zerstört. Beim Überqueren eines Campingplatzes schleuderte der Tornado einen Wohnwagen über die Wipfel ausgewachsener Tannen hinweg 30 Meter ins freie Gelände. Mehrere Autos, welche sich auf seinem Pfad befanden, liess er zermalmt und zum Teil in ihre Einzelteile zerlegt zurück. Zum Ereignis gibt es eindrückliche Bilder. Mit dem Tornado von 1971 wiederholte sich das Ereignis vom 19. August 1890 in praktisch identischer Weise. Beide Tornados nahmen den absolut gleichen Pfad. Fotografien zerstörter Gebäude und Wälder aus dem Jahre 1890 dokumentieren, dass das Vallée de Joux 1890 und 1971 mit ungefähr derselben Wucht getroffen wurde.
Gewitter vom 24. Juli 2023 in La Chaux-de-Fonds:
Beim Durchzug eines heftigen Gewitters am 24. Juli 2023 gegen Mittag wurden in La Chaux-de-Fonds extreme Windgeschwindigkeiten gemessen. An der MeteoSchweiz Messstation beim Flugplatz lag die höchste 1-Sekunden-Böe bei 217 km/h. Eine Messstation des Flugplatz-Betreibers etwas ausserhalb der Stadt (Mont Cornu) meldete als höchste 3-Sekunden-Böe 165 km/h.



Entlang der Nordflanke der Stadt sind konvergente Schadensmuster an der Vegetation sichtbar, die zum Durchzug eines Tornados passen. Im Gegensatz dazu sind im Westen und Süden der Stadt eher geradlinige und divergente Schadensmuster zu erkennen, die eher mit denen eines Downbursts in Verbindung gebracht werden können.
Die später gesammelten Videos und Zeugenaussagen (werden hier nicht behandelt) belegen ebenfalls, dass die Winde sowohl plötzlich und geradlinig als auch stellenweise konvergent und sogar wirbelnd waren.
Der südliche Teil des Gewitters wurde von abwärts gerichteten Böen, d.h. Downbursts geprägt, die mit dem «Rear Flank Downdraft» (RFD; rückseitiger Abwind) der Superzelle verbunden waren. Im Gegensatz dazu befand sich der nördliche Teil der Stadt in einem Gebiet, das von einer tornado-ähnlichen Rotation betroffen war, da es sich in der Konvergenzzone zwischen dem RFD und der Aufwindzone befand. Kombinieren wir diese Beobachtungen mit konzeptionellen Schemen, die auf unserem Wissen über Superzellen basieren, können wir ableiten, welche Windphänomene am wahrscheinlichsten für die Schäden verantwortlich waren: Es handelt sich somit wohl um ein hybrides Ereignis (siehe Abbildung 6).
Links: konzeptionelles Schema der bodennahen Windströmung, die mit der Gewitterzelle verbunden ist (hybrides Modell «Microburst/Tornado»). Dabei steht RFD für den rückseitigen Abwind, der den Downburst verursacht hat und T für Tornado. Rechts: visuelle Darstellung der Superzelle mit kräftigem Niederschlag, die sich am 24.07.2023 der Stadt La Chaux-de-Fonds von Westen her näherte (unten rechts). (Quelle: roundshot Webcam, Neuchâtel Tourisme - lachauxdefonds.roundshot.com)
Fazit
Die extremen Böen, die mit dieser Superzelle einhergingen, scheinen das Ergebnis mehrerer Phänomene zu sein, die direkt oberhalb von La Chaux-de-Fonds zusammen aufgetreten sind. Zudem haben die sehr starken, mit Niederschlag durchsetzten Abwinde höchstwahrscheinlich dazu beigetragen, dass hinter dem Niederschlagsvorhang am Schnittpunkt der Aufwindzone und des RFD eine tornado-ähnliche Rotation entstand. Diese scheint sich mit dem RFD, der für den Downburst verantwortlich war, vermischt zu haben, insbesondere in der Region Crêt-du-Locle und entlang der Nordflanke der Stadt La Chaux-de-Fonds, was das Zerstörungspotenzial noch verstärkt hat. Die Superzelle wurde von Höhenwinden von mehr als 80 km/h begleitet, entsprechend zog sie rasch über La Chaux-de-Fonds hinweg (in der Grössenordnung von etwa zehn Minuten).
Die Gewitterzelle näherte sich am 24. Juli 2023 gegen 11:15 Uhr Ortszeit La Chaux-de-Fonds. Foto stammt aus einem YouTube-Video.
Überlagerung des konzeptionellen Schemas der Gewitterzelle mit den entsprechenden Schaden-Schneisen im Raum La Chaux-de-Fonds.
Quelle Hintergrundbild: swisstopo und SITN, modifiziert von Lionel Peyraud, MeteoSchweiz